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(erstellt: Juli 2018)

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1. Definition und Terminologie

Das Wortfeld „Unschuld“ / „unschuldig“ bezeichnet im deutschen Sprachgebrauch eine moralisch-ethische Qualifikation, die sich sachlogisch an der Negation des Gegenbegriffs „Schuld“ und (in einen breiteren Bezugsrahmen gesetzt auch → „Sünde“ orientiert. Die Kriterien zur Beurteilung der „Unschuld“ differieren teils erheblich, sie sind aber gerade für die biblischen Vorstellungen ausdrücklich nicht mit einer exklusiven und partikularen Bindung an ein bestimmtes Gesetz oder – in religiöser Dimension – an eine göttliche Norm verbunden.

Das deutsche Lexem „Unschuld“ / „unschuldig“ hat im Hebräischen keine unmittelbare Entsprechung. Es wird am ehesten über das Verb תמם tmm ausgedrückt, sowie seine Derivate: תָּמִים tāmîm (Ps 84,12 u.ö.), תֹּם tom (Ps 7,9; Ps 26,1.11; Ps 41,13; Spr 19,1), תָּם tām (Hi 2,3) und תֻּמָּה tummāh* (Hi 27,5; Hi 31,6). Die Unschuld ist bei dieser Wurzel allerdings nur ein Teilaspekt der ohnehin sehr facettenreichen Termini. Deren semantische Nuancierungen changieren zwischen Vollkommenheit, Lauterkeit, Arglosigkeit, Unbescholtenheit und eben Unschuld. Die moralisch-ethischen Aspekte, die für die Unschulds-Semantik bestimmend sind, sind nur ein kleiner Teilbereich des hebräischen Wortfeldes. Weit häufiger wird nämlich auf eine körperliche Unversehrtheit („Vollkommenheit“) abgehoben (Jes 1,6; Ps 38,4.8; Ri 20,48) oder damit ein generelles Wohlergehen umschrieben (Hi 21,23; s. noch die bei Kedar-Kopfstein, 1995, 696f gelisteten Beispiele).

Im Griechischen findet sich als übliches Äquivalent der Begriffe תָּמִים tāmîm, תֹּם tom, תָּם tām und תֻּמָּה tummāh*, sofern diese sich auf den Aspekt der Unschuld beziehen, fast ausschließlich der Ausdruck ἀκακία akakia (wörtlich: „Mangel an Bosheit“). Die Wahl der griechischen Übersetzung ist bemerkenswert. Denn dem Griechischen stand ein ausdifferenziertes und sprachlich durchaus üblicheres Wortfeld bereits zur Verfügung (vgl. die bei Bons, 2016, 496 gelisteten Termini). Die Wahl des Begriffs ἀκακία akakia ist eventuell dadurch motiviert, dass er als einziger griechischer Begriff explizit und in absoluter Weise die „Abwesenheit von böser, also ethisch fragwürdiger Gesinnung“ ausdrückt (Bons, 2016, 491-501).

2. Unschuld als ethisch-moralische Kategorie

Das hebräische Begriffsrepertoire mit dem Bedeutungszuschnitt „Unschuld“ / „unschuldig“ kommt äußerst selten vor und beschränkt sich nahezu ausschließlich auf die → Psalmen, → Hiob und die → Sprüche. Trotz der Verstreuung der Belege auf vereinzelte und unterschiedlichste Textzusammenhänge und Texttraditionen, gibt es insofern eine gewisse Übereinstimmung, als vor allem auf die ethisch-moralischen Aspekte der Unschuld abgehoben wird: Wo von im Gemeinschaftsleben des Menschen geltenden Normen nicht abgewichen wird, ist das jeweilige Individuum unschuldig. Bei diesen Normen oder Grundsätzen ist innerhalb der biblischen Vorstellungswelt allerdings nicht an eine partikuläre Bindung an eine bestimmte Gesetzesordnung (etwa der Tora, des Deuteronomiums, des Bundesbuches oder Ähnlichem) zu denken, sondern spiegelt den subjektiven Bewertungsmaßstab der jeweiligen Autoren und Traditionen wider.

Die semantische Zuspitzung auf die Sphäre des ethisch-moralischen ist bemerkenswert, denn ihr biblischer Gegenbegriff, die Schuld, deckt ein weitaus schillernderes Bedeutungsspektrum ab, welches nicht nur die ethisch-moralische, sondern vor allem die juristische Bedeutungsebene evoziert, und mit Aspekten aus dem Finanzwesen („Verschuldung“) sprachlich wie sachlich grundiert ist (Schenker, 2001, 728-734; Knierim, 2001, 365-373). Die Wortgruppe תמם tmm bezeichnet das Richtige, Gutartige, Gerade, Rechte einer Handlung oder einer gesamten Lebensführung in Bezug auf das Gemeinwesen.

Der Gottesbezug spielt keine konstitutive Rolle. Die „Unschuld“ zielt also nicht primär auf den religiösen, sondern vor allem auf den zwischenmenschlichen Raum. Anders hingegen der biblische Sprachgebrauch für das sachliche Gegenstück der „Schuld“, welches semantisch zwischen Schuld im oben genannten Sinne und Sünde, also dem Verstoß gegen göttliche Normen (dazu Bieberstein / Bornmann, 2009, 570-573), oszilliert. Das biblische Unschuldsverständnis differiert von einem modernen und teilweise auch aus der christlichen Auslegetradition entstandenen Verständnis, das dazu tendiert, Unschuld begrifflich und sachlich in die Nähe von vollkommener Sündlosigkeit und exklusiver Observanz göttlicher Normen zu rücken. Dem biblischen Bild ist die Vorstellung einer absoluten Sündlosigkeit des Menschen, der der Mensch etwa durch den sog. → Sündenfall (Gen 2-3) verlustig gegangen sein soll – der Mensch soll also dort seine „kindliche Unschuld“ (Albertz, 1992, 20) eingebüßt haben – ohnehin fremd. Zumal auch erst in Gen 4,7 terminologisch von „Sünde“ (חַטָּאת ḥaṭṭā’t „Sünde / Schuld“) die Rede ist (Crüsemann, 2003, 64).

3. Zum Zusammenhang von Intentionalität und Tat

Ein zentrales Kriterium für die „Unschuld“ eines Menschen ist insbesondere die individuelle Intentionalität, nicht der Effekt einer Handlung, der gemeinschaftsschädigend wirkt. Oder anders formuliert: Wo moralisch-ethisch verwerfliches Handeln mit einer entsprechen Intentionalität der Handlung zusammenkommen, ist das entsprechende Individuum schuldig.

Umkehrt aber kann eine von ihrem Ergebnis her moralisch-ethisch negativ zu beurteilende Tat den Handlungsausführenden noch als Unschuldigen qualifiziert lassen, sofern die entsprechende Intentionalität fehlt. Dies wird regelmäßig in bestimmten biblischen Texten vorausgesetzt und teilweise narrativ expliziert.

Hierzu zwei prägnante Beispiele:

1) In der zweiten Fassung der „Gefährdung der Ahnfrau“-Erzählung (→ Preisgabeerzählungen) Gen 20,1-18 ist es der Stadtkönig → Abimelech, der → Abrahams Ehefrau → Sara unter der fälschlichen Annahme, es handle sich um Abrahams Schwester (Gen 20,2) in sein Haus holt. Innerhalb des Erzählgangs der Abrahamerzählung steht in diesem Moment nun alles auf dem Spiel, denn die Geburt des einzigen Abraham-Sohnes ist bereits verheißen (Gen 18,14), wird sich aber erst im Anschluss an die Abimelech-Episode mit der Geburt → Isaaks erfüllen (Gen 21,1-17). Durch die Preisgabe der Erzmutter Sara an den fremden Herrscher entsteht nun die Gefahr, dass Abimelech der Vater der „Nachkommen Abrahams“ werden könnte, Abimelech also aktiv die Verheißung JHWHs an Abram / Abraham stört (Gen 12,1-4) und damit aktiv Gottes Pläne durchkreuzt. Gott selbst stellt daher auch König Abimelech in einem Traum zur Rede (Gen 20,3). Dieser Traum erweist sich als Gerichtsverfahren, wobei allerdings der Erzähler gleich zweimal betont, dass Abimelech unschuldig sei: Da Abimelech im Glauben gehandelt habe, es sei die Schwester Abrahams, sei er unsträflich (hebräisch צַדִּיק ṣaddîq „gerecht“). Abimelech selbst sei unschuldig (תָּם tām), so betont der Erzähler eigens über die Rede des Königs (Gen 20,4-5): „In voller Unschuld meines Herzens (בְּתָם־לְבָבִי bətām ləvāvî) und mit reinen Händen habe ich gehandelt“ (Gen 20,5). Dieser Umstand wird sogleich von Gott in Vers 6 und unter Aufgriff der Formulierung Abimelechs bestätigt: „In voller Unschuld deines Herzens (בְּתָם־לְבָבְךָ bətām ləvāvəkhā) hast du es getan“. Interessanterweise entwickelt sich die Handlung trotz dieser doppelten Unschuldsbeteuerung in eine Richtung, die auf den ersten Blick als Konsequenz und Bestrafung für Abimelechs Tat zu deuten ist: Abimelech wird impotent und alle Frauen seines Reiches werden unfruchtbar (Gen 20,17.18). Sie erleiden damit exakt dasselbe Schicksal wie die unfruchtbare Sara zuvor (vgl. die parallelen Formulierungen in Gen 16,2 in Bezug auf Sara: „Siehe doch, JHWH hat mich verschlossen, dass ich nicht gebäre“; und Gen 20,18: „Alle Schöße wurden verschlossen“). Im Sinne der Erzähllogik ist dies aber gerade nicht als juristische Konsequenz zu deuten (Abimelech wird zweifach, zudem noch von höchster Instanz, nämlich Gott selbst, als unschuldig erklärt), sondern steht im Dienste der Betonung der einzigartigen Geburt des einen Sohnes Saras und Abrahams, die unmittelbar im Anschluss erzählt wird (Gen 21,1-7). Erst durch das aktive Eingreifen JHWHs kann nun endlich (die Geburtsankündigung innerhalb des Erzählduktus in Gen 15,4; und allgemeiner [„Nachkommenschaft“] bereits in Gen 12,2) der lange verheißene Sohn Isaak geboren werden. Diese Geburt ist von solch immenser Bedeutung, dass Gott die dem Menschen selbst gegebene Schöpfungskraft (Gen 2-3; und besonders: Gen 4,1; zur Beziehung von göttlichem und menschlichem Schöpfungsakt s. Hensel, 2011, 46f) kurzzeitig aussetzt (Gen 20,17-18), um diese eine Geburt vorzubereiten und zu ermöglichen (Hensel, 2011, 100-102).

2) Vergleichbares gilt auch für die Thronfolgestreitigkeiten (→ Thronfolgegeschichte) zwischen dem David-Sohn → Absalom und seinem Vater (besonders in 2Sam 15-18; dazu Aurelius, 2004, 391-412). Als Initialzündung der von Absalom geplanten Aufstände gegen König David lädt er zu einem Treffen seiner Anhänger nach → Hebron ein (2Sam 15,10), um von dort aus den Umsturz und den Sturz Davids zu veranlassen. Dessen Einladung kommen aber nicht nur potentielle Aufständische, sondern auch einige Offizielle aus Jerusalem nach (2Sam 15,11a: „zweihundert Mann von Jerusalem“). Die Erzählung unterstreicht allerdings in einem Nebensatz expressis verbis, dass jene eben nichts von den verräterischen Absichten des Königssohnes wussten: „sie gingen in völliger Arglosigkeit“ (2Sam 15,11b). Bei dem hier mit „Arglosigkeit“ zu übersetzenden hebräischen תֻּמָּה tummāh schwingt dessen Bedeutungsaspekt „unschuldig“ (s.o. 1.) in jedem Falle deutlich mit.

4. Das Losorakel „Urim und Tummim“

Ein interessanter Bedeutungshorizont könnte sich hinsichtlich des priesterlichen Losorakels „Urim und Tummim“ (hebräisch: אוּרִים וְתוּמִּים ’ûrîm wətûmmîm) aufspannen, welches in Ex 28,30; Lev 8,8; Dtn 33,8; Esr 2,63; Neh 7,65 genannt wird. Allerdings sind weder Details über das Instrumentarium des Orakels oder dessen Handhabung und Ausführung, noch seine religionsgeschichtlichen Hintergründe bekannt. Ebenso unklar ist die Bedeutung der hebräischen Wortfügung und ihrer Einzelelemente, was sich auch in teils stark unterschiedlichen deutschen Übersetzungen niederschlägt: „Licht und Recht“ (Luther), „die Lichtenden und die Schlichtenden“ (Buber / Rosenzweig), welche ihrerseits von antiken Übersetzungs- und Deutungsversuchen abgeleitet sind (vor allem aus der → Septuaginta und der → Vulgata). Sofern hier ohnehin fremdländische Kultgegenstände bzw. ein nicht-israelitisches Ritual in die Schriften Israels übernommen wurde, wurden eventuell auch dessen Bezeichnung hebraisiert – „Urim und Tummim“ muss also nicht unbedingt hebräischen Ursprungs sein. Der Babylonische → Talmud hingegen leitet die Wörter von hebräisch „Licht“ (אוֹר ’ôr) und der Wurzel תמם tmm ab (Hauptbedeutung: „vollenden“) und deutet entsprechend: Urim beleuchten ihre Aussagen, Tummim vollenden ihre Aussagen“ (Babylonischer Talmud, Traktat Joma 73b, Text Talmud; zu den Ableitungsversuchen s. HALAT, s.v. תָּמִים; siehe auch Kedar-Kopfstein, 1995, 695).

Es besteht allerdings auch die Möglichkeit „Urim“ etymologisch von der Wurzel ארר ’rr „verfluchen“ abzuleiten. Für „Tummim“ ist eine Ableitung von תָּמִים tāmîm und תֻּמָּה tummāh* (s.o. 1.), also „Unschuld“, „unschuldig“. Die sich daraus ergebende gegensätzliche Bedeutungen „verflucht und unschuldig“ geben die binären Ausschläge dieses Orakels wieder, wie sie auch die biblischen Texte widerspiegeln: ja oder nein (2Sam 2,1), schuldig oder unschuldig.

Literaturverzeichnis

  • Albertz, R., „Ihr werdet sein wie Gott“ (Gen 3,5), in: F. Crüsemann / Chr. Hardmeier / R. Kessler (Hgg.), Was ist der Mensch…? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments (FS H.W. Wolff), München 1992, 11-27
  • Aurelius, E., Davids Unschuld. Die Hofgeschichte und Psalm 7; in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS Otto Kaiser, Band 1; BZAW 345/1), Berlin / New York 2004, 391-412
  • Bieberstein, K. / Bormann, L., 2009, Art. Sünde, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh, 570-573
  • Bons, E., Ἀκακία and ἄκακος. Considerations on a Septuagint Term of „Innocence“, in: S. Kreuzer / M. Meiser / M. Sigismund (Hgg.), Die Septuaginta – Orte und Intentionen. 5. Internationale Tagung veranstaltet von Septuaginta Deutsch (LXX:D), Wuppertal 24.-27. Juli 2014, Volume I (WUNT 361), Tübingen 2016, 491-501
  • Crüsemann, F., Eva – Die erste Frau und ihre ‚Schuld’. Ein Beitrag zu einer kanonisch-sozialgeschichtlichen Lektüre der Urgeschichte, in: ders., Kanon und Sozialgeschichte. Beiträge zum Alten Testament, Gütersloh 2003, 55-65
  • Hensel, B., Die Vertauschung des Erstgeburtssegens in der Genesis. Eine Analyse der narrativ-theologischen Grundstruktur des ersten Buches der Tora (BZAW 423), Berlin / New York 2011
  • Kedar-Kopfstein, B., Art. תמם, in: ThWAT, Bd. 8, Stuttgart u.a. 1995, 688-701
  • Knierim, R.P., Art. „Sünde. II. Altes Testament“, in: TRE, Bd. 32, Berlin u.a. 2001, 365-373
  • Schenker, Art. Sünde I: AT, in: NBL, Bd. III, Zürich u.a. 2001, 728-734

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