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Ende der Schlacht von Stalingrad
"Entscheidungsschlacht für die Freiheit der Menschheit"

Das Ende der Schlacht von Stalingrad vor 75 Jahren gilt als Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges. Ohne Stalingrad wäre die Befreiung von Auschwitz nicht möglich gewesen, sagte der Historiker Jochen Hellbeck im Dlf. Für große Teile der Anti-Hitler-Koalition sei die Schlacht entscheidend für die Freiheit und Zukunft der Menschheit gewesen.

Jochen Hellbeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 02.02.2018
    Deutsche Soldaten während der Schlacht in Stalingrad.
    Deutsche Soldaten während der Schlacht in Stalingrad. (AFP)
    Christoph Heinemann: Professor Hellbeck, warum haben Hitler und seine Generale die 6. Armee nicht gerettet, als das noch möglich gewesen wäre?
    Jochen Hellbeck: Na ja – zu retten hätte bedeutet, sich zurückzuziehen und die Trophäe Stalingrad aufzugeben. Das wäre das Eingeständnis einer Niederlage gewesen, die Hitler zu sehen damals nicht bereit war. Es war ja nicht das erste Mal, dass Hitler zum Aushalten aufrief. Schon vor Moskau im Winter 1941 hatte er einen Haltebefehl erteilt. Hitlers Nimbus unter seinen Gefolgten gründete sich ja im Grunde auf ein fortgesetztes Vabanquespiel, das ihnen zunächst große Siege bescherte – man denkt da an den Polen- oder Frankreich-Feldzug -, aber dann auch ungeheure Verluste, wie man bei Stalingrad sieht und allem, das die Schlacht nach sich zog, bis hin zum Untergang des Dritten Reichs.
    Ein deutscher Panzer 1942 vor Stalingrad.
    Ein deutscher Panzer 1942 vor Stalingrad. (AP Archiv)
    Heinemann: Aber es kam ja dann doch zur Niederlage. Wie hat die NS-Propaganda diese Niederlage der deutschen Bevölkerung erklärt?
    Hellbeck: Ich fand es ganz erstaunlich, dass Joseph Goebbels, der Propagandaminister, auf die Niederlage schon lange eingestellt war und sogar glaubte, dass diese Niederlage den Deutschen gut tun könnte. Man kann das in seinen Tagebüchern lesen, dass er schon seit dem Herbst 1942 auf eine Gelegenheit wartete, einen Weckruf zu erlassen, mit dem er die Bevölkerung zu einem größeren Kriegseinsatz mobilisieren wollte. Nach dem Untergang der 6. Armee verhängte die NS-Führung zunächst drei Tage Staatstrauer für, wenn man so will, die heutigen Nibelungen, die in Stalingrad alle heldenhaft gefallen seien. Das war die offizielle Lesart und über die 100.000 in Gefangenschaft gehenden Soldaten wurde kein Wort verloren. Aber zehn Tage später erfolgte dann Goebbels Sportpalast-Rede und der Aufruf zum totalen Krieg, die totale Mobilisierung der Bevölkerung, auch der weiblichen Bevölkerung – eine Mobilisierung gegen den asiatischen und bestialischen Feind. Insofern war das etwas, was Goebbels durchaus auch entgegenkam.
    "Truppen trafen auf unerwartet heftigen sowjetischen Widerstand"
    Heinemann: Wieso haben Hitler und Stalin diese enorm hohen Verluste hingenommen?
    Hellbeck: Auf der deutschen Seite rechnete zunächst niemand mit solchen Verlusten. Die Idee war ja, Stalingrad aus der Luft vollständig zu zerstören - das geschah Ende August, Anfang September -, um sie dann mit geringen Verlusten einzunehmen. Dann kam es ganz anders und die deutschen Truppen trafen auf unerwartet heftigen sowjetischen Widerstand. Später meldete der deutsche Nachrichtendienst massierte feindliche Truppenbewegungen entlang der Flanken der von den Deutschen und ihren Verbündeten gehaltenen Frontlinien, aber diese Berichte wurden in den Wind geschlagen, denn die deutsche Heerführung hielt es für sicher, dass die Sowjetunion einfach keine Menschenreserven mehr hätte. Dann griff die Rote Armee mit mehr als einer Million Soldaten an, am 20. November.
    Auf der sowjetischen Seite machten sich die Militärs eigentlich sehr wenig Gedanken über eigene Verluste, solange die sogenannten Menschenreserven verfügbar waren. Erst wenn diese bedroht schienen, dann sieht man in Denkschriften Gedanken auftauchen, wie man Kriegshandlungen weniger verlustreich durchführen könnte. Erst dann wurde der Kult der Offensive, wenn man so will, der Kult mit gezücktem Bajonett, der übrigens schon in der zarischen Armee als Beleg für soldatischen Mut galt, erst dann wurde das überdacht. Stalingrad war im Grunde ein Punkt des Umdenkens hier. Man sieht, dass die Umzingelung und Einschließung der Deutschen, die Operation Uranus im November 1942, eine sehr sorgfältig geplante Operation war, die an deutsche Blitzkrieg-Taktiken erinnert und zeigt, wie viel das Militär und auch Stalin persönlich aus dem Krieg gegen die Deutschen lernten.
    "Stalingrad war ein Arsenal des Sowjetstaates"
    Heinemann: Welche Rolle spielte Stalingrad in der militärischen Planung der sowjetischen Führung?
    Hellbeck: Ich glaube, da kann man von einer symbolischen und einer militärischen Rolle sprechen, die aber eigentlich schwer voneinander zu trennen sind. Zunächst einmal hieß Stalingrad seit 1925 Stalingrad, weil Stalin die Stadt, die damals Zarizyn hieß, im russischen Bürgerkrieg gegen antisowjetische Truppen verteidigt hatte. Hier sehen Sie die symbolische Bedeutung. Stalin hatte Zarizyn verteidigt, damit war auch gleichzeitig verbürgt, dass er diesmal auch Stalingrad halten würde. Aber dazu kamen auch sehr handfeste militärische und politische Faktoren. Die Rote Armee war im Sommer 1942 ein weiteres Mal zurückgewichen. Sie hatte im Juli Rostow am Don aufgegeben und unmittelbar danach verkündete Stalin diesen berüchtigten "keinen Schritt zurück"-Befehl, in dem er übrigens Hitlers Haltebefehl vom Winter 1941 als Vorbild anführte. Stalingrad war die erste Stadt, in der dieser Haltebefehl getestet wurde. Stalingrad war, wenn man so will, ein Arsenal des Sowjetstaates. Hier wurden sehr viele Kanonen und T34-Panzer hergestellt, also eine wichtige Industriestadt, auch eine wichtige Handelsstadt, die an einem strategischen Ort lag. Stalingrad liegt weiter südöstlich von Moskau und die Sowjetunion befürchtete, dass der Feind nach der Einnahme von Stalingrad nördlich entlang der Wolga vorstoßen könnte und so Moskau einschnüren würde. Da gab es durchaus auch diese handfesten Gründe, die dazu führten, dass man Stalingrad bis zum Letzten verteidigte.
    "Himmler wollte die Spuren der Schandtaten tilgen"
    Heinemann: War Stalingrad der Wendepunkt? Begann mit der Kapitulation der 6. Armee die Niederlage der deutschen Wehrmacht?
    Hellbeck: Ganz bestimmt, wobei ich vielleicht den Akzent nicht nur auf die Niederlage der Wehrmacht legen würde, sondern der gesamten nationalsozialistischen Vernichtungsmaschine. Ich finde sehr symptomatisch, dass SS-Führer Heinrich Himmler einen Monat nach Schlachtende, also im März 1943, das Todeslager von Treblinka besuchte und dort anordnete, dass alle Leichen auszugraben seien und zu verbrennen. Er ahnte, dass die Rote Armee weitermarschieren würde nach Westen, und er wollte die Spuren dieser Schandtaten tilgen.
    Überlebende Kinder im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau nach der Befreiung durch die sowjetische Armee
    Überlebende Kinder im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau nach der Befreiung durch die sowjetische Armee ( imago/ITAR-TASS)
    Ich finde das interessant, weil wir jetzt gerade in der vergangenen Woche wieder der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee gedacht haben. Ohne Stalingrad wäre das nicht möglich gewesen. Und ich glaube, dass das nicht nur eine spätere Einsicht ist, sondern durchaus von Zeitzeugen weltweit auch so gesehen wurde. Überall in der Welt wurden an den Sieg der Roten Armee in Stalingrad große Hoffnungen geknüpft. In Tagebüchern von Juden im Wilnaer Ghetto kann man das lesen, im besetzten Frankreich, in England weithin, sogar in Lateinamerika – man denkt da an Pablo Nerudas Stalingrad-Lieder, die er 1942 und 1943 komponierte. Das mag ein bisschen pathetisch klingen, aber ich glaube, dass für große Teile der weltweiten Anti-Hitler-Koalition Stalingrad wirklich eine Entscheidungsschlacht für die Freiheit und Zukunft der Menschheit war.
    Heinemann: Professor Hellbeck, Sie haben 2012 die Stalingrad-Protokolle herausgegeben, eine umfangreiche Sammlung von Äußerungen sowjetischer Soldaten, aber auch politischer Kommissare, Partisanen, Zivilisten, die Historiker im Winter 1942 aufgezeichnet haben. Wie haben diese Soldaten den Feind wahrgenommen, tatsächlich oder unter dem Druck auch der sie Befragenden?
    Hellbeck: Unter dem Druck der sie Befragenden ganz bestimmt. Da war natürlich das Gefühl präsent, wir werden hier von einer offiziellen Kommission interviewt. Natürlich auch unter dem Druck, wenn man so will, des stalinschen Befehls 227, keinen Schritt zurück, den ich ja schon erwähnte, der bei Zuwiderhandlung mit Erschießung drohte. Doch glaube ich, dass viele Forscher die Umsetzung dieses Befehls und die Bedeutung dieses, wenn man so will, physischen Drucks und der Unterdrückung durch das eigene Regime überschätzen und auch Exekutionszahlen in Umlauf bringen, die dokumentarisch nicht gestützt sind.
    Unterschätzt wird zugleich die eigene Motivation von Rotarmisten, gegen einen Feind zu kämpfen, den sie ebenso fürchteten wie hassten. Da kann man beispielsweise den Fall von Wassili Saizew anführen, der von den Historikern interviewt wurde. Das ist der bekannte Scharfschütze aus Stalingrad. Er wurde nach seiner Motivation gefragt und sagte, dass er einmal im Schützengraben von Stalingrad hilflos zusehen musste, wie eine um Hilfe schreiende Frau von den Deutschen verschleppt wurde, wohl um sie zu vergewaltigen. Er erwähnte auch Kinder, die in den Parks und Gärten aufgeknüpft seien, und meinte dann zu den Historikern: "Glauben Sie, das hat keine Wirkung?" – Das hat eine kolossale Wirkung und er erzählt dann, wie er tagelang auch nicht schlief, eigentlich mit dem Ziel, so viele feindliche Soldaten wie möglich umzubringen. - Mir scheint, dass ein noch großes, aber wenig bekanntes Thema ist, wie viel die Menschen in Sowjetunion von den Kriegsverbrechen der Deutschen sahen und wussten und wie sehr diese Verbrechen sie aufwiegelten und direkt in den Krieg einflossen, und diese Motivation müssen wir mit berücksichtigen.
    "In vielen Ländern wird eine nationale Engschau gepflegt"
    Heinemann: Welche Bedeutung nimmt Stalingrad heute ein, nicht nur in Russland?
    Hellbeck: Was mir auffällt, ist in erster Linie die sehr parzellierte, wenn man so will, Erinnerungslandschaft. In vielen Ländern wird eine Erinnerung an Stalingrad gepflegt, allerdings eine sehr vereinzelte, wenn man so will, eine nationale Engschau. In Deutschland pflegen wir eine durchaus kritische Erinnerung an die Schlacht inzwischen und sehen sie als ein sinnloses Menschenopfer. Man kann das als eine pazifistische Erinnerung sehen. Aber wir sehen nach wie vor Stalingrad weniger im Zusammenhang mit der NS-Vernichtungspolitik insgesamt, von der ich vorhin sprach. In Russland sehen wir demgegenüber eine Glorifizierung der Vergangenheit und da sehen wir, wie Stalingrad sehr stark der Gegenstand patriotischer Erziehung ist, also praktisch eine spiegelverkehrte Erinnerung, wenn man das mit Deutschland vergleicht.
    70 Jahre nach Stalingrad: Russische Soldaten proben eine Parade zum Gedenktag
    70 Jahre nach Stalingrad: Russische Soldaten proben eine Parade zum Gedenktag (picture alliance / dpa / Kirill Braga)
    In der Ukraine wird auch jetzt eine sehr patriotische Erziehung gepflegt. Dabei wird allerdings Stalingrad gerade aus den Geschichtsbüchern und aus den Straßennamen der Ukraine gelöscht, obwohl Millionen Ukrainer in der Roten Armee und durchaus für sowjetische Ziele damals kämpften. Die heutige Sicht ist halt, dass die Ukraine von der Sowjetunion besetzt war, die ganze Zeit, in der gesamten Sowjetzeit. Das ukrainische und russische Erinnern ist völlig gegensätzlich. Das schaukelt sich hoch und kann dann auch zu Kriegen führen oder diese am Köcheln halten.
    Mir scheint, dass Stalingrad eigentlich ein wunderbares Beispiel ist, um die engen Korridore nationaler Erinnerung zu verlassen. Stalingrad war ja eine Völkerschlacht und eignet sich sehr gut als Fluchtpunkt für eine übergreifende europaweite Erinnerung des Zweiten Weltkriegs. Dafür braucht es natürlich noch einer solchen Einsicht, einer übergreifenden Einsicht und auch eines gemeinsamen politischen Willens. Mir scheint, dass gerade weil Europa derzeit kriselt, ein solcher Erinnerungsort, der auf eine größere Zukunftsidee hinweist, uns sehr weit bringen könnte. Man denkt an den Handschlag von Helmut Kohl und Francois Mitterrand auf den Gräbern von Verdun 1984. Das war ein Handschlag, der die EU mit herbeigeführt hat, also sehr, sehr bedeutsam war, und so würde ich es gerne noch erleben, dass eines Tages Vertreter des russischen und des deutschen Volks, aber auch Ungarn, Rumänen, Italiener, Weißrussen, Tataren und Kasachen sich im ehemaligen Stalingrad die Hand reichen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.