Ursula von der Leyen: „Das Klima gewinnt nur, wenn alle zum Schutz beitragen“

„Beim Klimawandel habe ich mich von der Wissenschaft überzeugen lassen – und von der Natur selbst“: EU-Kommissions­präsidenten Ursula von der Leyen im Garten ihres Elternhauses in Beinhorn bei Hannover.

„Beim Klimawandel habe ich mich von der Wissenschaft überzeugen lassen – und von der Natur selbst“: EU-Kommissions­präsidenten Ursula von der Leyen im Garten ihres Elternhauses in Beinhorn bei Hannover.

Beinhorn. Frau Präsidentin, wir sind hier an einem Ort zum Durchatmen, im Garten Ihres Elternhauses in Burgdorf bei Hannover. Wie alt sind eigentlich die Eichen, unter denen wir hier sitzen?

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Rund 300 Jahre. Hier verändert sich wenig im Laufe der Jahrzehnte. Man ist ringsum umgeben von fast endloser Natur. Das tut gut …

… und relativiert manche Aufregung des Tages?

O ja. Gerade war meine Tochter hier mit ihrem Baby, meinem ersten Enkelkind. Das kleine Mädchen wird im Jahr 2050, dem Jahr, in dem die EU klimaneutral werden soll, immer noch eine junge Frau sein, mit 29 Jahren. Da bekommt dieses fern wirkende Datum plötzlich eine ganz neue Nähe.

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Senkung der Treibhausgase bis 2030 um 55 Prozent, Klimaneutralität ab 2050 – mal ehrlich: Schaffen wir das?

Diese Zielmarken sind seit diesem Sommer europäisches Recht. Den Klimazielen der EU haben die 27 Staats- und Regierungschefs ebenso zugestimmt wie das Europäische Parlament. Dahinter kann jetzt niemand mehr zurück. Über das Wie kann noch viel diskutiert werden, aber nicht mehr über das Ob. Inzwischen ist der Klimawandel für alle spürbar und längst da. In Kanada steigen die Temperaturen auf 50 Grad. In Deutschland und den Benelux-Ländern sehen wir nie da gewesene Überschwemmungen. In Sibirien taut der Permafrostboden auf.

Gespräch im Grünen: EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen mit RND-Chefautor Matthias Koch und Brüssel-Korrespondent Damir Fras.

Gespräch im Grünen: EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen mit RND-Chefautor Matthias Koch und Brüssel-Korrespondent Damir Fras.

Das klingt, als könne Ursula von der Leyen Mitglied bei den Grünen sein.

Nein, es geht um globale Realitäten, an denen niemand vorbeikommt und die wir auch immer mehr in unserem Alltag spüren. Beim Klimawandel habe ich mich von der Wissenschaft überzeugen lassen – und von der Natur selbst.

„Ich will, dass die EU weltweit vorangeht“

Als Verteidigungs­ministerin habe ich vor Jahren in Afrika mit eigenen Augen gesehen, wie gefährlich der Klimawandel ist. Er verschärft den alten Streit zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern um knappes Wasser und nutzbare Böden. Extremisten nutzen das aus. Blutige Konflikte und Kriege sind die Folge, ebenso Flucht und Vertreibung. Wir müssen endlich handeln.

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Die EU allein aber wird im planetarischen Maßstab beim besten Willen das Ruder nicht herumreißen können. Wenn andere Weltregionen nicht mitziehen, droht sogar ein Worst Case: Die EU belastet die europäische Wirtschaft, etwa durch CO₂-Abgaben, ohne dass unterm Strich dem Weltklima geholfen wird.

Die Erderwärmung stoppen wir nur global, da haben Sie recht. Aber mich stimmt zuversichtlich, dass sich immer mehr Industrieregionen auf der Welt ehrgeizige Klimaziele setzen. Abgewartet haben wir alle miteinander schon viel zu lange. Ich will, dass die EU jetzt weltweit vorangeht. Die Umstellung wird anstrengend, auch das ist wahr. Aber wenn wir nichts tun, liegen die Kosten am Ende noch höher. Europa hat alles, was es für den Erfolg braucht.

Die Ressourcen, die Wissenschafts­landschaft, die innovativen Unternehmen. Wir können jetzt als Europäer ein Beispiel geben und auch weltweite Standards setzen. Das sichert nachhaltige Arbeitsplätze und Wohlstand in der EU.

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„Auch China will lieber auf saubere Art wachsen“

Sehen Sie sich die Autoindustrie an. Noch vor wenigen Jahren sagten deren Verbände, ein Verzicht auf den Verbrenner bis 2035 sei unmöglich zu schaffen. Jetzt stelle ich fest: Einige Konzerne werben damit, schon 2030 mit der Umstellung fertig sein zu wollen. Sie wissen, dass da ein riesiger Markt entsteht, und investieren kräftig.

China sagt: Wir gehen den gleichen Weg, aber langsamer, wir kommen erst 2060 ans Ziel. Luchsen die Chinesen den Europäern bis dahin noch Investitionen und Jobs ab?

Man darf den Druck nicht unterschätzen, den China heute schon durch den Klimawandel spürt. Denken Sie nur an den gewaltigen Smog in chinesischen Städten. Denken Sie auch an die jüngsten Überflutungen in der Region Henan.

Chinas Provinz Henan, 27. Juli: Rettungs­mannschaften evakuieren mit Schlauchbooten die Anwohner der nach Starkregen überschwemmten 490.000-Einwohner-Stadt Weihui.

Chinas Provinz Henan, 27. Juli: Rettungs­mannschaften evakuieren mit Schlauchbooten die Anwohner der nach Starkregen überschwemmten 490.000-Einwohner-Stadt Weihui.

Auch China will lieber auf saubere Art wachsen. Mich treibt mehr die Frage um: Wie schaffen wir es, als Europäer die Nase vorn zu haben? Der europäische Green Deal löst eine gewaltige Investitionswelle aus. Allein 500 Milliarden Euro steuert in den nächsten Jahren die EU-Ebene bei, dazu kommen die nationale Förderung und das Geld privater Investoren. Diesen Anschub müssen wir für unsere globale Marktstellung nutzen. Ich will, dass die EU die Klima- und Umwelt­technologien der Zukunft nach China exportiert – nicht umgekehrt.

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Wie reagiert die EU, wenn ein Stahlproduzent sagt: Jetzt verlege ich die Produktion in den Staat X außerhalb der EU, vielleicht nach Russland oder in die Türkei, da spare ich mir die CO₂-Abgabe – und dann verkaufe ich den billiger produzierten Stahl an die Europäer?

Wir müssen natürlich unsere Investitionen in saubere Technologien schützen. Deswegen werden wir einen Grenzausgleichs­mechanismus einführen. Unternehmen, die schmutzige Produkte einführen wollen, müssen einen Ausgleich bezahlen. Wer auch klimafreundlich produziert, muss das nicht. CO₂ wird also einen Preis haben, so oder so.

Führt das nicht zwangsläufig zu einem Handels­konflikt?

Wir wollen die Regeln der Welthandels­organisation respektieren. Aber die globale Diskussion läuft bereits in die richtige Richtung. Immer mehr Länder verstehen, dass der EU-Mechanismus eher eine Einladung ist, es der EU nachzumachen. Wir Europäer sagen: Wir wollen mit der Grenzabgabe am liebsten gar kein Geld einnehmen, sondern hätten es lieber, wenn auch anderswo klimafreundlich produziert wird. Die EU wird immer offen bleiben, aber das Klima gewinnt nur, wenn alle zum Schutz beitragen.

Machen die USA bei alldem mit?

Mit dem neuen Präsidenten Joe Biden hat sich bereits viel zum Positiven verändert. Die USA haben ihre Klimaziele neu gesteckt, sie haben im April einen virtuellen „Earth Day“-Gipfel mit den wichtigsten Staats- und Regierungschefs abgehalten. Jetzt kommt es darauf an, dass unsere amerikanischen Freunde es der EU nachtun und im Detail darlegen, wie ihr Plan zur Klimaneutralität aussieht, durchdekliniert für alle Sektoren der Wirtschaft.

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Virtueller „Earth Day“ – aber was dann? US-Präsident Joe Biden mit zugeschalteten Staats- und Regierungschefs am 22. April dieses Jahres.

Virtueller „Earth Day“ – aber was dann? US-Präsident Joe Biden mit zugeschalteten Staats- und Regierungschefs am 22. April dieses Jahres.

Hilfreich wäre auch, wenn sie sich wieder verlässlich an globalen Programmen beteiligten, die Entwicklungs­länder finanziell dabei unterstützen, den technologischen Sprung in eine klimafreundlichere Art des Wirtschaftens hinzubekommen.

„Die Ärmsten leiden schon jetzt am stärksten“

Beim Thema Energie­erzeugung hat die Kombination von Solarstrom und Wasserstoff hervorragende Zukunftschancen. Beim nächsten Weltklimagipfel, im Oktober in Glasgow, brauchen wir auf all diesen Feldern Fortschritte und ehrgeizige Verabredungen. Wir zählen darauf, dass die Briten als Gastgeber dieses Treffens darauf hinarbeiten werden.

Klimapolitik kann weltpolitisch, aber auch innenpolitisch kompliziert werden. Als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Winter 2018/2019 Diesel teurer machte, zogen monatelang Bataillone von protestierenden Gelbwesten zündelnd durch die Straßen.

Aus diesen Protesten ziehen wir die richtigen Lehren. Die Gelbwesten sind entstanden, weil es zwar Reformen, aber keinen sozialen Ausgleich gab. Das wird uns in der EU nicht passieren. Die EU-Kommission hat einen Klimasozialfonds vorgeschlagen, der von 2025 an bis 2032 inklusive der nationalen Beiträge fast 150 Milliarden Euro umfassen soll. Mit dem Geld sollte es gelingen, dass Menschen mit kleinen Einkommen nicht überfordert werden, wenn sie zum Beispiel energie­sparender heizen oder auf ein Elektroauto umsteigen wollen. Der europäische Green Deal wird nur funktionieren, wenn er fair und sozial ausgewogen ist. Auch hier gelten die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft.

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Was sagen Sie denen, die der Meinung sind, die gesamte Klimapolitik sei ein Elitenprojekt?

Das Gegenteil ist wahr. Die Ärmsten leiden schon jetzt am stärksten unter dem Klimawandel. Das gilt für alle Länder der Erde. In Tschechien hat ein Tornado in diesem Sommer 2000 Häuser zerstört. Wer Geld hat, baut wieder auf oder zieht weg, wie auch aus Hochwasser­gebieten. Vielen fehlen dazu die Mittel. Untätigkeit beim Klimaschutz würde die soziale Spaltung noch vertiefen.

Tschechien, 25. Juli 2021: Ein nie da gewesener Tornado verwüstet Ortschaften im Süden der Region Mähren.

Tschechien, 25. Juli 2021: Ein nie da gewesener Tornado verwüstet Ortschaften im Süden der Region Mähren.

Zum anderen großen Thema dieser Epoche: Corona. Gerade hat die „New York Times“ der EU gratuliert und notiert, dass hier die Impfquote inzwischen höher liegt als in den USA. Wie passt dazu das immer noch geltende Einreiseverbot der USA für Europäer?

Wir pochen darauf, dass für Einreisende in beiden Richtungen vergleichbare Regeln gelten. Die epidemiologische Lage in den USA und in der EU ist heute sehr ähnlich. Die EU hat bereits im Juni die Einreise­beschränkungen für US-Bürger aufgehoben. Wir müssen das Problem so schnell wie möglich lösen und sind mit unseren amerikanischen Freunden im Kontakt. Das darf sich nicht noch wochenlang ziehen.

Zu Beginn haben viele Kritiker, auch in Deutschland, es als Fehler gesehen, die EU mit der Beschaffung von Impfstoffen zu beauftragen. Wie fällt Ihre Bilanz heute aus?

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Die europäische Strategie hat sich als richtig erwiesen. Ja, es gab Anlaufprobleme. Wenn 27 Staaten zusammenwirken und für 440 Millionen Menschen geordert werden muss, ist erst mal alles etwas komplexer. Aber wie das Ergebnis heute aussehen würde, wenn jeder EU-Staat auf eigene Faust Impfstoff besorgt hätte, will ich mir lieber nicht ausmalen. Die ganze Welt war hinter den wenigen Produzenten her. Kleinere EU-Staaten wären leer ausgegangen, und unser hochvernetzter Binnenmarkt wäre kollabiert. Heute stellen wir fest: In kaum einer Region der Erde sind so viele Menschen per Impfung vollständig geschützt wie unter den mehr als 440 Millionen EU-Bürgern.

Europas Aufholjagd beim Impfen.

Europas Aufholjagd beim Impfen.

Und wir Europäer sind, darauf bin ich besonders stolz, immer offen und fair geblieben zum Rest der Welt. Wir haben parallel Drittstaaten mit mehr als 550 Millionen Dosen Impfstoff versorgt – fast so viel, wie in die EU ausgeliefert wurden. Andere wie Großbritannien und die USA haben sich abgeschottet.

Was wurde eigentlich aus dem russischen Impfstoff Sputnik V? Hören Sie etwas aus der Europäischen Arzneimittel­behörde (EMA)?

Um Sputnik ist es sehr still geworden. Einen Antrag bei der EMA gibt es schon lange. Aber bislang ist es dem Hersteller nicht gelungen, genügend valide Daten zu liefern, um die Sicherheit nachzuweisen. Das wirft Fragen auf.

Inzwischen wird eine dritte Impfung debattiert. Haben Sie vorgesorgt?

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Wir haben bei Biontech 1,8 Milliarden Dosen bis zum Jahr 2023 bestellt. Das ist der größte Anschlussauftrag weltweit und reicht für mögliche Auffrischungsimpfungen in der EU und Anpassungen an mögliche neue Virusvarianten. Und wir werden auch weiter Impfdosen an Nachbarn abgeben können, etwa in Afrika.

„Die Pandemie ist erst vorbei, wenn sie für alle Menschen vorbei ist“: Ursula von der Leyen beim RND-Sommerinterview.

„Die Pandemie ist erst vorbei, wenn sie für alle Menschen vorbei ist“: Ursula von der Leyen beim RND-Sommerinterview.

Wir dürfen nie vergessen: Die Pandemie ist erst vorbei, wenn sie für alle Menschen vorbei ist. Ob wir über den Klimawandel reden oder Corona: Bei solchen Herausforderungen müssen wir über die eigenen Grenzen hinausdenken. Das erfordert ein Europa, das offen und aktiv mit der Welt an Lösungen arbeitet.

Sie selbst saßen als Kind im Schatten dieser Eichen. Ihr Vater, Ernst Al­brecht, war in den 50er- und 60er-Jahren bei der EU tätig, zuletzt als Generaldirektor für Wettbewerb. Was hat er Ihnen damals über Europa erzählt?

Mein Vater war 15 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Er hat in den letzten Kriegswochen seinen Vater, der Arzt war, in Bremen begleitet. Diese grauenhafte Zeit hat ihn geprägt. Für ihn war Europa ein Friedensprojekt. Uns Kindern hat mein Vater anfangs oft gesagt: Wenn wir miteinander in Europa Handel treiben, dann entstehen Freundschaften, und Freunde schießen nicht aufeinander. Damals kam die Bedrohung von der Feindschaft zwischen Völkern. Heute ist es die menschen­gemachte Erderwärmung. Wieder können wir die Aufgabe nur gemeinsam bewältigen. Etwas von dieser Aufbruchstimmung brauchen wir heute wieder – aber nicht nur innerhalb Europas, sondern rund um die Erde.

Frau von der Leyen, wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch.

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